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Schreibrechtsreform 1995

Alex @, Mittwoch, 29. Juli 2015, 22:08 (vor 3576 Tagen) @ Oblomow

Mitte der 1990er Jahre fand die letzte große, und wie sich zeigen sollte, "geniale" Schreibrechtsreform statt.

Ich kann es kaum verstehen, wie wenig ich mich damals um die angestrebten Veränderungen "kümmerte",
es lief so nach dem Obelix-Motto ab: 'Die spinnen, die Römer!'
Im Vordergrund standen wohl die Vereinfachungen. Überflüssige Regeln sollten wegfallen.
Ich erinnere noch, man hatte es auf das "ß" abgesehen, es sollte eliminiert werden.
Daß - hinsichtlich Bedeutung - Masse ungleich Maße und Buße ungleich Busse ist, wußte man damals schon.
Wie zum Beispiel diese Probleme durch die Reformer letztlich gelöst wurden, weiß ich bis heute nicht.
Andere wohl auch nicht.
Häufig bin ich irritiert, weil ich mich frage, was meint der junge facebook-User,
was will der Künstler uns sagen?

Das Tückische bei dieser Rechtschreibreform ist die Analogie zur allgemeinen Sprachverluderung...:-)
Die allerdings einhergeht mit dem Zwang zur Jugendlichkeit.
Gibt es doch nix fürchterlicheres als zu altern und dann auch noch dabei erwischt zu werden, wie einem
eigentümliche Wörter und altbackene Redewendungen aus dem zahnlosen Mund heraus purzeln.
Der Jugendwahn ist in unserer Generation auf die Spitze getrieben worden, nicht, weil das in der Antike nicht auch schon üblich war, sondern weil wir die erste hiesige Generation waren, die die Adoleszenzphase auf Teufel komm' 'raus ausdehnen konnte.
Ohne, dass uns das Leben frühzeitig eine über den Nüschel zog…
So haben wir vielleicht die Sprache der Alten heimlich genossen, uns aber in der Subkultur gehütet, dieses überkandidelte Erbe zu kultivieren.
Alles musste einfacher, radikaler, cooler klingen.
Da ward eine "Schreibrechtsreform" überfällig...

Meine Spießigkeit zeigt sich heutzutage, wenn ich aufschrecke, weil wieder einmal irgendein Zwanzigjähriger auf den Gebrauch des Dativ 'verzichtet'. Daß der Konjunktiv und das Futur nicht mehr modern ist, daran habe ich mich schon gewöhnt.
Man fährt halt nächste Woche nach Wien und wird nicht fahren. Und nicht nur die Schüler der 8.Klasse schreiben 'wäre" mit 'h'.
Im Morgenfernsehen ( MoMa ? ) berichtet die Moderatorin von der Buchmesse und redet von Pöt Lehmann und Pöt Schröder.
Noch nicht ganz klar im Kopf wundere ich mich über die komischen Vornamen der Künstler, wie kommt's?
Es gibt wohlmeinende Anrufer, die auf das vergessene Trema hinweisen. Die Moderatorin entschuldigt sich, sie habe gelernt, dass oe als ö gesprochen werde. Das sei eine feste Regel, die "schon immer" gegolten habe ............

War das eine Moderatorin des Hessischen Rundfunks?
Dann könnte ich schuld sein…
Aus purer Boshaftigkeit habe ich in diesem Fall schon immer auf das Trema verzichtet.
Pöt zu sagen war schlicht die beste Möglichkeit, dem ausufernden juvenilen Gejauner in dessen Welt- und Liebesschmerz angemessen Spott zuteilen zu können.
Und Sie wissen ja, wie sich schlechte Angewohnheiten innerhalb der Peer Group multiplizieren können...

Barocke Verhältnisse: Jeder schreibt, wie er glaubt schreiben zu müssen.
Dabei bleibt die Klarheit auf der Strecke.
Ich erinnere 1834, als der preußische König die Verordnung herausgab, eine Vererbung des Grundbesitzes könne nur erfolgen, wenn die Schreibweise des Nachnamens (zuvor) beim Amtsgericht zu Protokoll gegeben wurde.

Jetzt binden Sie uns aber einen Bären auf, Sir Oblomow!
1834 erinnern…muss man Ihnen etwa post mortem einen Pflock durch's Herz jagen?

In den Dörfern herrschte der Analphabetismus vor, Nachnamen wurden selten gebraucht und wenn, dann nur auf Zuruf.
Hatte der Steuerbeamte nun Hoffmann oder Hofmann verstanden. Bei Platt und ohne Zähne redet man undeutlich. Ich weiß, wovon ich rede. ;-)

Thür mit dem 'h' finde ich nach wie vor schöner, aber phonetisch auch plausibler. Aber das H blieb schon bei der Schreibrechtsreform 1905 auf der Strecke.

BTW, warum wird - während ich diesen Text hier schreibe - meine 'Schreibrechtsreform' rot unterlegt?
Habe ich einen Fehler gemacht?

Das ist der Tugendterror einer schreibrechtreformierten Software.

In den frühen 1960er Jahren sprachen wir in der Schule über Bemühungen, Kommata-Regelungen zu vereinfachen und die Kleinschreibung zu generalisieren. Wir mußten einen Aufsatz schreiben.

Klar, wir bemühten argumentativ 'Wilhelm Tell':
"Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt."
vs "Der brave Mann denkt an sich, selbst zuletzt."

Oder auch:
ich habe in Berlin liebe genossen. { Namen werden auch bei Kleinschreibung groß geschrieben }

Klar, Klarheit kann man durch eine andere Formulierung auch bei der Kleinschreibung herstellen,
aber die Verwendung von Artikeln wird allmählich auch unmodern.

Man wird alt, die Zeiten entfernen sich von einem. Und nicht wir uns von der Zeit, oder?

https://www.youtube.com/watch?v=5ll8cKiudDA


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