Hakennasen statt Hakenkreuze

Esther Schapira @ TAZ (!), Samstag, 04. Oktober 2003, 21:01 (vor 7894 Tagen)

Dient der Antisemitismusvorwurf der Aufklärung?
Oder regiert die Logik des Skandals?
Rätselhaft ist bloß, dass es Judenhass gibt, aber
offenbar keinen, der Juden hasst...

"Verzeihung, sind Sie Antisemit?", fragt Moishe
einen Mann am Bahnhof. "Nein, natürlich nicht. Ich
habe jüdische Freunde." "Entschuldigen Sie bitte
die Frage", sagt Moishe, geht weiter und fragt den
Nächsten: "Sind Sie vielleicht Antisemit?" Auch
dieser verneint empört. So geht es immer weiter,
bis er schließlich an einen Mann gerät, der
antwortet: "Und ob! Das sind doch alles
Halsabschneider, die sich weltweit verschwören."
"Wunderbar", sagt Moishe, "Sie sind ein ehrlicher
Mann. Würden Sie bitte einen Moment auf meinen
Koffer aufpassen?"

Ist Ted Honderich, der Terroranschläge auf
israelische Zivilisten für moralisch hält, ein
Antisemit? Natürlich nicht. Und Martin Walser?
Natürlich auch nicht. Und Andreas von Bülow?
Natürlich auch nicht. Horst Mahler? Die vorzeitig
gestörten Attentäter von München?

Vielleicht, aber sicher bin ich mir nicht,
schließlich hat selbst Adolf Eichmann vor Gericht
in Jerusalem bestritten, einer zu sein. Vermutlich
sind die Antisemiten längst ausgestorben. Nur der
Antisemitismus lebt und wächst. Dabei stimmen laut
einer Studie, die im Auftrag des American Jewish
Committee im Oktober 2002 durchgeführt wurde, 40
Prozent der deutschen Bevölkerung der Aussage zu:
"Juden hätten zu viel Einfluss auf das
Weltgeschehen." Das Bundesamt für
Verfassungsschutz registrierte allein im
vergangenen Jahr 50 Prozent mehr Gewalttaten mit
antisemitischem Hintergrund. Geschändete
Friedhöfe, Angriffe auf Synagogen, Überfälle auf
orthodoxe Juden - aber weit und breit kein
Antisemit.

Es ist ein merkwürdiges Phänomen: Der
Antisemitismus ist allgegenwärtig, aber es gibt
kaum Antisemiten. Zumal in der Linken, die sich in
fröhlicher Selbstherrlichkeit grundsätzlich auf
der richtigen Seite wähnt, was aber keinesfalls
Empathie für die Opfer bedeutet. Eindrucksvoll hat
dies gerade wieder Hartmut Berlin, der
Chefredakteur von Eulenspiegel, belegt, der auf
dem Titelbild eine erstens geschmacklose und
zweitens eindeutig antisemitische Karikatur
abbildete, auf der Michel Friedman mit Hakennase
zu sehen ist, gezeichnet von Arno Funke alias
"Dagobert", dem früheren Kaufhauserpresser.

Nun lässt sich über Michel Friedman vieles sagen,
mit Sicherheit aber nicht, dass er eine Hakennase
hat. Dennoch kann dieses Titelbild nicht
antisemitisch sein, nach dem Selbstverständnis des
Chefredakteurs, weil es ja von einer linken
Zeitung abgedruckt wurde. Es ist dieselbe Logik,
mit der sich die Bezeichnung "Antisemit"
grundsätzlich für alle verbietet, die sich von
Auschwitz distanzieren. Der Antisemitismus aber
ist älter als Auschwitz, und er ist mit der
Zerstörung der Vernichtungslager nicht
verschwunden. Doch seither liegt, zumindest in
Deutschland, immer Brandgeruch in der Luft, wenn
über Antisemitismus diskutiert wird, was zu einer
sonderbaren Verkehrung geführt hat. Nicht der
Antisemit verstößt gegen das Tabu, wohl aber der
Kritiker, der ihn als solchen bezeichnet. Wer,
zumal aus jüdischer Position, diesen Vorwurf
erhebt, läuft Gefahr, sich zu diskreditieren, sich
außerhalb des akzeptierten Diskursraums zu
begeben. Und so ist stattdessen von
"antisemitischen Ressentiments" oder von
"antisemitischem Antizionismus" die Rede.

Am deutlichsten lässt sich dieses Reaktionsmuster
derzeit bei der Nahostdebatte beobachten. Vehement
wird gefordert, was schon immer eine brutale
Selbstverständlichkeit war, die schonungslose
Kritik israelischer Politik. Mir ist kein Beispiel
dafür bekannt, dass Israelkritiker als Antisemiten
diffamiert würden. Stattdessen insinuiert diese
Debatte ein Tabu, das es doch längst nicht mehr
gibt, vielleicht noch nie gab. Die politische
Position zur israelischen Politik sagt zunächst
einmal nichts über die Frage aus, ob diese durch
antisemitische Ressentiments bestimmt wird. Auch
die Verweigerung, sich einzufühlen in die
Empfindungen von Menschen, die erfahren haben,
dass eine Vernichtungsandrohung wie etwa die
Charta der Hamas keine abstrakte Rhetorik ist,
sondern schon einmal tödliche Realität war, kann
bloße Gefühlskälte oder unbewusste Abwehr sein.
Oder eben Antisemitismus. Dass jemand Israel
kritisiert, ist ja noch kein Beweis dafür, dass er
kein Antisemit ist.

Hakennasen statt Hakenkreuze

Fortsetzung, Samstag, 04. Oktober 2003, 21:01 (vor 7894 Tagen) @ Esther Schapira @ TAZ (!)



Die Nahostdebatte ermöglicht eine einmalige
affektive Entlastung bis hin zu moralisch
gereinigten Vernichtungsfantasien. Selbst die
Solidarität mit palästinensischen
Selbstmordattentätern, die unterschiedslos Babys
wie Überlebende der Schoa in die Luft sprengen,
weil sie Juden sind, geriert sich als Solidarität
mit den Opfern. So können auch Attac-Mitglieder
problemlos Unterschriften für die Rücknahme der
EU-Entscheidung sammeln, die Hamas als
Terrororganisation einzustufen, und gleichzeitig
jeden Verdacht, Antisemiten zu unterstützen oder
gar selbst zu sein, weit von sich weisen. Und
genauso wenig muss es sie dann kümmern, in welcher
gedanklichen Nachbarschaft sich die Parolen
befinden. Hinter dem Banner "Freiheit für
Palästina" können sich linke Globalisierungsgegner
eben genauso gut sammeln wie islamische
Fundamentalisten oder Neonazis.

Genauso wird dies auch am 27. September bei den
weltweiten Demonstrationen zur Unterstützung der
Intifada wieder sein. Dass es sich bei diesem
Datum ausgerechnet um das jüdische Neujahrsfest
Rosch Haschana handelt, wird die Demonstranten
dabei nicht irritieren. Ist es antisemitisch, an
einem der höchsten jüdischen Feiertage auch mit
jenen gemeinsame Sache zu machen, deren erklärtes
Ziel und blutige Praxis die Ermordung von Juden
ist? Die diskursiv reflexhafte Antwort wird dies
verneinen. Schließlich geht es um Israel und nicht
um Juden.

Wie theoretisch dabei die Unterscheidung zwischen
antiisraelisch und antijüdisch ist, zeigt die Zahl
der Angriffe nicht auf Israelis und ihre
offiziellen Vertretungen im Ausland, sondern auf
Juden und jüdische Einrichtungen. Nur: Dieser
eindeutig antisemitische Reflex löst keine
Solidarität linker Friedensaktivisten aus,
geschweige denn Kampagnen für "menschliche
Schutzschilde". Dass Synagogen und Gemeindezentren
geschützt werden müssen, bleibt der Polizei
überlassen. Erst wenn Angriffe auf Juden
selbstverständlich geächtet und ihre
Rechtfertigung auf taube Ohren und nicht auf
interessierte Leser trifft, lässt sich gelassen
über die Definition von Antisemitismus
diskutieren. Doch danach sieht es auf absehbare
Zeit nicht aus.

Suhrkamp mag Ted Honderichs Buch vom Markt
genommen haben, Piper aber verkauft Andreas von
Bülows Verschwörungshetze munter und erfolgreich
weiter und verdient so an der
Brunnenvergiftungslegende von der Verantwortung
der Juden für den Anschlag auf das World Trade
Center. Zweifellos halten sich weder
Piper-Verlagschef Viktor Niemann noch sein Autor
für Antisemiten. Beide sind ebenso ungeeignet, auf
Moishes Koffer aufzupassen wie die vielen Leser,
die das Buch neben Bröckers Bestseller über die
Verschwörungstheorien zum 11. September in ihr
Regal gestellt haben.

Hakennasen statt Hakenkreuze

., Samstag, 04. Oktober 2003, 21:16 (vor 7894 Tagen) @ Fortsetzung

Hakennasen statt Hakenkreuze

Ishah, Samstag, 04. Oktober 2003, 22:06 (vor 7894 Tagen) @ .

ich hab´s gehört.

Weisst du wo das Yekkes-Viertel in Haifah ist? Es
hat mich von dort jemand angerufen um die Zeit, um
ein bisschen zu quatschen - ich habe den Knall
durchs Telefon gehört :(

Hakennasen statt Hakenkreuze

.., Samstag, 04. Oktober 2003, 21:37 (vor 7894 Tagen) @ Fortsetzung

Hakennasen statt Hakenkreuze

ramona, Sonntag, 05. Oktober 2003, 08:07 (vor 7893 Tagen) @ Esther Schapira @ TAZ (!)

Esther Schapira @ TAZ (!) schrieb:

Dient der Antisemitismusvorwurf der Aufklärung?
Oder regiert die Logik des Skandals?
Rätselhaft ist bloß, dass es Judenhass gibt, aber
offenbar keinen, der Juden hasst...


den ganzen Artikel nochmal:

http://www.taz.de/pt/2003/09/26/a0109.nf/text.ges%
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