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Ein bigotter Zwergstaat

The Editrix ⌂ @, Montag, 25. Mai 2015, 13:03 (vor 3641 Tagen) @ The Editrix

Rundschau und die Folgen

Sigi Feigel macht die Häufung antisemitischer Zuschriften in einer Fernsehsendung öffentlich. Er erhält daraufhin eine grosse Zahl unterstützender Karten und Briefe. Nur Siegfried G., Weinfelden wollte das Tuch über den antisemitischen Schmutz halten: "Die Briefe, die Du erhalten hast, gehören in den Papierwolf und nicht an das Fernsehen. "

Viele FernsehzuschauerInnen sind schockiert. "Bisher dachten wir, dass nur ein paar gestörte Extremisten - die notorischen Rassen-, Fremden-, Juden- und letztendlich Menschenhasser eben - solcher primitiven und menschenverachtenden Hasstiraden fähig sind. " Doch der Rundschau-Beitrag habe sie eines anderen belehrt. "Wir können nicht mehr einfach annehmen, dass Bürger, Persönlichkeiten und Politiker in diesem Land automatisch die gleichen Schlüsse aus der Vergangenheit gezogen haben und gleicher Meinung sind wie wir. " "Verwerflich" seien Delamuraz' Äusserungen, schreibt Rolf I. , Horw LU. Sie hätten "niederträchtige Tendenzen" ausgelöst, doch die Schweizer Jüdinnen und Juden könnten auf "einen riesigen Rückhalt unter den besonneren Schweizerbürgern zählen, welche nach wie vor die grosse Mehrheit ausmacht". Ihn stört die in den Massenmedien angewandte Gegenüberstellung von Schweizern und Juden. "Man spricht ja auch nicht von Katholiken und Protestanten und Schweizern. " Margie L., Basel ist "wütend" auf Delamuraz, sie hält seine Äusserung für einen "kalkulierten Ausrutscher". B. und E. K., Olten distanzieren sich von Delamuraz und schreiben: "Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges wurde dem jüdischen Volk durch Politiker unseres Landes grosses Unrecht angetan. Dies ist uns seit langem bekannt. " Der Bedrohung erinnert sich Marlis B., Zürich, Jahrgang 1924, die sich über die Äusserungen der Bundesräte schämt. Ihre beste Schulfreundin in einer Internatsschule sei Jüdin gewesen: "Unter ihrem Bett lag stets der gepackte Koffer. Und als Holland von den Nazis überrannt wurde, musste sie sofort nach Hause fahren, damit die Familie bei einem ev. Überfall auf die Schweiz beisammen sein würde. " Auch Margrit W., Brütten (Jahrgang 1930, Verdingkind, "also auch ohne Rechte") erinnert sich antisemitischer Verfolgung in einem Dorf an der Grenze: "Lernte in der Schule Rebecca kennen, sie wurde meine Freundin, das Mädchen musste 42 raus aus der Schweiz, die traurigen Augen vergesse ich nie. Das Kind kam in einem KZ um. Geschäfte wurden boykottiert und Inhaber geplagt. Wer mit den Judenkindern spielte, wurde verprügelt. " Hans Peter W., Zürich ist "als Schweizer" erschüttert, "dass solche Schmierereien nun seit kurzem auch mit Absender versehen bei Ihnen ankommen, zeigt es doch, dass die Schreiber sich mit ihren Ansichten relativ sicher und leider durchaus nicht allein fühlen, bestärkt nicht zuletzt durch die ausgeprägte und perfide 'Sündenbock-Politik' gewisser Parteien. " Elf Männer und Frauen aus Hinwil hoffen, "es sei eine verschwindende Minderheit, die so hasserfüllt reagiert". Maria Teresa B. ist entsetzt über das "Aufblühen von Antisemitismus (Rassenhass)" und erinnert sich fremdenfeindlicher Erfahrungen: "An meinem ersten Schultag begrüsste mich (und zwei 'Gspänli') die Lehrerin mit den Worten: So ihr Tschinggen, ihr setzt euch zuhinterst! "

Ann und Hans F., Weisslingen wollen, dass "die Scharfmacher auf beiden Seiten in ihre Schranken gewiesen werden können und eine allseitig tragbare Lösung in Würde erarbeitet werden kann. " Beglückwünscht wird Feigel für "faire Haltung", für "einen sachlichen, versöhnlichen Ton". Die Cousine eines ehemaligen Bundesrates dankt für die "wertvolle Art zu beruhigen und auch etwas Gutes zu sehen. " Sie kann sich eines kleinen nationalistischen Seitenhiebes nicht enthalten: "Sollten die Amerikaner nicht auch an das unermessliche Leid denken, das sie den Indios zugefügt haben. " K. und H. K., Tann, danken für die "Bemühungen, die Wogen zu glätten".

Verallgemeinerte Einzelfälle

Kurt F., Lachen will sein "ungutes Gefühl gegenüber Juden" beschreiben und berichtet von einer Begegnung anno 1963, die er auf der Fähre von Ibiza nach Barcelona gemacht habe. "Mir war sofort klar, dass der Mann ein Jude sein musste, was ich ihm sofort sagte. Er war darüber sehr erstaunt und fragte mich wieso ich darauf gekommen sei. Ich sagte ihm, dass es eben seine Art sei, wie er sich gebe. Nach einigem Nachdenken bat er mich, ihm die Eigenart zu erklären, die mir aufgefallen sei, weil er diese noch verstärken möchte. Für mich war das unverständlich, dass man einen solchen Wunsch äussern konnte. " Dann berichtet er noch von der Scheidung seiner Eltern und meint dann die Juden "sind überall in Schlüsselstellungen vertreten und haben grossen Einfluss, der aber zum Teil, weil subtil, nicht fassbar, zerstörerisch in der Gesellschaft wirkt. So vernimmt man immer wieder Tatsachen vom Fehlverhalten von Juden. Leider gibt es keine Bezeichnung für dieses Fehlverhalten. Unser sogenanntes Fehlverhalten bezeichnet man mit Antisemitismus. "

Seine Geschichte habe ihn jetzt wieder eingeholt, meinte Jörg A. Opfikon/Glattburg, seine Eltern hätten anfangs 30er-Jahre in Paris mit Hilfe jüdischer Kreditgeber ein Restaurant gepachtet. Der Geschäftsaufbau sei noch nicht abgeschlossen gewesen, "als die Rückzahlungsforderungen erfolgten, einen Aufschub gab es nicht. Ohne Rücksicht auf unsere kommende Situation musste unser Unternehmen mit Verlust verkauft werden, (...). Die Gläubiger (Schweizer Juden) reisten aus nach Amerika. " Das sei Geschichte gewesen. "Doch nun plötzlich machen sie vornehmlich wieder ausländische jüdische Gemeinschaften hörbar, sie wollen Geld und Gold, es steht ihnen zu. "

Welche antisemitischen Vorurteile?

Einige antisemitische SchreiberInnen bedienen sich mehrfach im Fundus antisemitischer Judenbilder. Ein anonymer Basler kritzelt auf eine Postkarte: "Juden werden nie Ruhe finden, weil sie den unschuldigen Jesus auf grausamste kreuzigen liessen. " Israel bestehe nur "aus Gewalt, Folter und Lügen". Und dann auch: "Vor lauter Geldgier können und wollen die Juden ihre eigene Geschichte nicht aufarbeiten. Es war gut die Grenze zu schliessen, wie die anderen Staaten. " Ein anonymer Schreiber (Poststempel Maienfeld) steht ihm nicht nach: "Das masslos übertriebene Geschrei einiger Juden ist ein Faustschlag ins Gesicht jener Wehrmänner, die jahrelang auch im eisigen Winter an der Grenze Wache gehalten haben, um die Neutralität für einige Rappen Sold zu bewahren. " Der Schreiber vollführt in einem Brief einen grossen Bogen von den "sozialen Genossen u. Muschg u. Bichsel u. Co." zu den Juden, die "in Palästina ganze Dörfer vertrieben" hätten, weiter zu einem "Viehhändler, echter Jude", bis hin zu den Drohungen: "Einige Schreihälse Juden u. schweiz. Politiker sollte man zünftig verprügeln! Offenbar waren die Gaskammern der Nazi viel zuwenig leistungsfähig! " Ebenfalls anonym, Poststempel Luzern, mit Schreibmaschine auf eine Postkarte getippt: "Adolf Hitler hat sein Werk nicht zu Ende geführt ... Schade!! So wie sich jetzt die Juden benehmen, das fördert den Antisemitismus sehr. " Zitternde Handschrift, unleserliche Unterschrift, Poststempel Bern 1: "Ihr Saujuden sollte man alle aus der Schweiz entfernen. Ihr seid ein Krebsgeschwür. "

Verunglimpfer mimen gelegentlich menschenfreundliche Besorgnis. Walter C., Lyss schreibt: "Mindestens 100 Millionen, welche unsere Grossbanken 'freiwillig' spenden werden, sind ein jämmerlicher Betrag im Verhältnis zum weltweiten Schaden, den d'Amato und der JWC den Juden angerichtet haben. Seit mehr als 50 Jahren höre ich wieder den Ausdruck 'typisch jüdisch'. " Habgier sei "zwar keine Eigenschaft, welche nur die Juden 'gepachtet' haben. Aber seit Jahrhunderten wirft man ihnen dies vor, weil sie im allgemeinen sehr erwerbstüchtig sind". Dann frägt der Lysser besorgt, vielleicht scheinheilig, wie man der von der JWC ausgelösten "Welle der Aversion" entgegensteuern könnte? Der JWC oder prominente Juden sollten d'Amato scheitern lassen. "Damit könnte der Schaden begrenzt werden. " Gibt es nicht ein antisemitisches Vorurteil, nach dem Juden verschwörerisch hinter den Kulissen die Fäden ziehen? Mehrere Schreiber verlangen Distanzierungen, zum Beispiel von Edgar Bronfman. Ulrich H. aus Biel fordert: "Wenn die massgebenden jüdischen Organisationen der Schweiz diesen Erpresser nicht laut und deutlich zu einer Zunahme und Entschuldigung für diese unerhörte Diffamierung zwingen, haben sie für mich jede Glaubwürdigkeit verloren. " Er zählt viele Ungeheuerlichkeiten dieses Jahrhunderts auf, vom Völkermord an den Armeniern bis zu Sebrenica und den Pogromen in Burundi: "Warum heute dieses Kesseltreiben gegen unser Land? " Alles sei ein "Ablenkungsmanöver. Die amerikanische Nahostpolitik der letzten Jahrzehnte ist gescheitert, und die heutige Regierung Israels unter Netanyahu und den Ultrareligiösen kann durchaus zu einem neuen Krieg führen. "

Eine "echte, öffentliche, patriotische Solidaritätsbezeugung unserer Juden zu ihrem Vaterland Schweiz", ja eine "Entschuldigung, wenn nicht sogar ein Dankeschön für ein kluges, massvolles Agieren unserer Regierung in der Nazizeit", verlangt Karl H. aus Wädenswil ZH ("bin weiss Gott kein Antisemit"). Sonst hält er es mit Walter Boveri, dass sich Juden "ohne jeden Patriotismus in fremde Kulturen einschleichen", ja "eine fremde Kultur wie ein Zitrone auspressen, sobald sie dazu die Möglichkeit haben".

Aber wie ist es mit der Wahrnehmung der antisemitischen Vergangenheit? Hans U., Rüschlikon, aufgewachsen in Basel: "Meine jüdischen Mitschüler wurden zwar von vielen etwas ausgegrenzt. An antisemitische Haltungen kann ich mich jedoch nicht erinnern." Was gilt nun? Wurden sie nicht ausgegrenzt, weil sie Juden waren?

Einfach ist es für Männer, die sich Patrioten nennen: Wer die Schweizer Regierung kritisiert, gehört nicht dazu. Aber bei Bedarf lobt man die Männer und Frauen, die einst den unmenschlichen Gesetzen widerhandelten. Die humanitäre Hilfe Einzelner rechnet Friedrich E., Baar gegen "die grossen Fehler" beider Seiten: "Es gab auch einige Schweizer, die Juden und Zigeunern mit Pässen und Visas das Leben retteten und zwar von Tausenden und nachher noch bestraft wurden, weil sie dem Gewissen gefolgt waren. "

Heinz T., Jahrgang 1928, legte einmal als "Gewerkschaftsfunktionär" in Auschwitz/Birkenau einen Kranz nieder. "Was aber jetzt gegen die Schweiz seitens jüdischer Organisationen hereinbricht ist schlicht und einfach weit über das Tragbare. " Die Juden sollten sich "von solchen Typen" wie D'Amato distanzieren. "Die Juden sind doch sonst nicht so dumm und einfältig. " Die jüdischen Organisationen würden ein Spiel mit dem Feuer treiben. "Wollen Sie eine Kristallnacht in der Schweiz wirklich? Wenn das Volk aus Zorn und Wut zu marschieren beginnt, kann weder ein Bundesrat Koller, noch ein Georg Kreis als Götz von Herrliberg noch ein Antirassismusgesetz, noch eine Polizei diese Bewegung stoppen. " Nicht so rabiat argumentiert Maria Z. aus Zürich, die während dem Zweiten Weltkrieg in Budapest lebte und an Senator D'Amato schreibt: "Deportationen, Ghetto, Erschiessungen am Donau-Ufer... etc ... An wen ich konnte, besorgte ich Aria-Dokumente (Baronin Olah-Weiss, Dr. Wollak, an dem sogar der berüchtigte Eichmann den Entlassungsschein unterschrieben hat, bei seinem Besuch in Budapest, Dr. Wollak's Sohn) Frau Olga Wohl haben wir in meiner Familie versteckt. Ihre Angehörige, in Ghetto, jeden Tag mit Lebensmittel versorgt. " Sie sei weder "Jüdin noch privilegiert, nur ein Mensch, die damals und heute, die Ungerechtigkeiten ertragen konnte und kann. " Von D'Amato, dem sie Schüren von Antisemitismus vorwirft, verlangt sie "Fairness". Im Brief an Sigi Feigel bezeichnet sie den US-Senator als "kleinen Hitler": "So lange Senator D'Amato unterstützt wird, hört er nicht auf uns zu beschimpfen, böses Blut zu erzeugen! Können Sie nicht mehr Druck, bei der Jüdische Weltkongress ausüben? Sehen die das nicht? Erschwert nur die Verständigung! Ansonsten läuft alles normal. Mit Fingerspitzengefühl erreicht man mehr! - und wie wäre es, wenn der Senator sich entschuldigen würde, was er so gerne von anderen erwartet? !"

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ODERINT DUM METUANT
(Caligula)


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