Antisemitismus ist ein Gefühl

Malachy, Freitag, 21. November 2003, 22:32 (vor 7946 Tagen) @ Nora

http://www.merkur.de/aktuell/do03/jue_034701.html
Es fehlt das Vertrauen
RHEINISCHER MERKUR: Gibt es in Deutschland eine
Veränderung des politischen Klimas nach den
Äußerungen Jürgen Möllemanns und Martin Hohmanns?
Ist Antisemitismus Ihrer Meinung nach in
Deutschland wieder salonfähig ?
SHIMON STEIN: Es hat sich gezeigt, dass
antisemitische Stereotype und Klischees hier immer
noch vorhanden sind. 58 Jahre nach der Schoah ist
Antisemitismus noch immer ein Problem, und deshalb
bleibt die Daueraufgabe, Aufklärungsarbeit zu
betreiben. Daüber hinaus frage ich mich
beispielsweise , ob Henryk M. Broders Gedanke
nicht richtig ist, ein Vorurteil sei, zu glauben,
dass man Vorurteile mit Informationen bekämpfen
kann. Aber noch bin ich voller Hoffnung, dass die
Aufklärungsarbeit ein Stück weiterhilft in dem
schwierigen Bemühen, Stereotype und Klischees über
Juden abzubauen.


Wenn der Vorsitzende des Zentralrats der Juden,
Paul Spiegel, nun ein Buch schreibt unter dem
Titel »Was ist koscher?« und darin den Deutschen
den jüdischen Glauben und die jüdische Lebenswelt
nahe zu bringen sucht - glauben Sie, dass das
Vorurteile abbauen kann?

Leute, die so denken wie Hohmann, kann man nicht
zu einer Umkehr bewegen. Was mich nachdenklich
macht, ist zum Beispiel die Meinungsumfrage, die
im »Spiegel« dieser Woche erschien. Auf die Frage,
ob man so etwas wie Hohmanns Äußerungen sagen
dürfen soll, antworten 42 Prozent mit Ja. Das ist
schon eine beträchtliche Zahl. Das sind Leute, die
nicht verstanden haben, was Antisemitismus ist und
was er für Folgen haben kann. Ich glaube, der
Umgang mit Juden war immer ein Barometer für die
Toleranz und Akzeptanz einer Gesellschaft, dafür,
wie sie mit Andersdenkenden und Minoritäten
umgeht. Die deutsche Gesellschaft muss diese
Affäre zum Anlass nehmen, um darüber nachzudenken.
Das ist nicht mehr eine Erscheinung, die sich am
Rande der Gesellschaft abspielt.


Gibt es Ihrer Meinung nach einen Unterschied
zwischen Antisemitismus und Antizionismus, oder
ist es unter dem Strich für Sie dasselbe?

Ich glaube, Antizionismus ist eine Form des
Antisemitismus. Wenn man innerhalb der liberalen
oder der so genannten fortgeschrittenen Linken den
Juden das Recht auf einen Staat abspricht, dann
bestreitet man das Recht des jüdischen Volkes auf
Selbstbestimmung. Man setzt für das jüdische Volk
einfach nicht denselben Maßstab, den man für die
Palästinenser, für die Deutschen, für die
Franzosen gelten lässt - als Völker, die das Recht
haben, von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch
zu machen.


Es wird ja gerne behauptet, dass, wer Israels
Politik kritisiert, sofort als Antisemit
verteufelt wird. Wenn Sie als Botschafter mit
Kritik an Ihrem Land konfrontiert werden, können
Sie dann unterscheiden, ob sich dahinter alte
antisemitische Ressentiments verbergen?

Dass es ein Tabu sei, Israel zu kritisieren, ist
eine künstliche Debatte, die sich vor einiger Zeit
entfachte. Es ist kein Tabu, und die israelische
Politik kann auch kritisiert werden. Aber diese
Kritik muss, um glaubwürdig zu sein, bei uns auch
so ankommen. Wenn sie konstruktiv ist und uns
Vorschläge macht, was wir ändern können, wenn sie
ausgewogen ist, wenn sie fundiert ist, wenn sie
ein konstruktives Ziel hat, dann kann man durchaus
zum Beispiel Israels Siedlungspolitik kritisieren
oder unsere Einstellung zu Arafat im Hinblick auf
den Zaun diskutieren. Aber diese Kritik, die
Israel als Speerspitze des Imperialismus, als eine
koloniale Macht bezeichnet und es mit den Nazis
vergleicht, wenn man Begriffe wie totaler Krieg
und Vernichtungskrieg benutzt oder manche die
Kritik zum Anlass nehmen, um das Existenzrecht des
jüdischen Staates infrage zu stellen, dann hat das
mit legitimer Kritik gar nichts mehr zu tun. Viele
argumentieren in diese Richtung, und da bleibt uns
nichts anderes zu sagen, als dass diese Kritik
völlig illegitim ist und auch eigentlich
antisemitische Züge beinhaltet.
....


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