Arnold Gehlen { 1904 - 1976 }

NN, Mittwoch, 18. Mai 2016, 19:57 (vor 3281 Tagen) @ Schlemiel
bearbeitet von NN, Mittwoch, 18. Mai 2016, 20:19

Gehlen ist in seinem, sagen wir mal pragmatischer Menschheitsbeschreibung dem Herrn Rousseau nicht unähnlich.

Wat?!

Ich weiß nun nicht, was an Schweizer Schulen über Rousseau alles gelehrt wird (und was nicht), aber Rousseaus Menschheitsbeschreibung war gewiss nicht pragmatisch:

„Es ist nichts zahmer als der Mensch in seinem ursprünglichen Zustande, da ihn die Natur von der Dummheit der Tiere und von den schädlichen Einsichten des gesitteten Menschen, gleich weit entfernt, da Vernunft und Instinkt nur darauf abzielen, dass er sich vor einem Übel hüte, von dem er bedroht wird, und da er durch ein natürliches Mitleid abgehalten wird, jemals Böses zu tun, auch wenn es ihm von einem anderen zugefügt wird, und nichts kann ihn dazu antreiben, es ihm wiederum zu vergelten.“ (Siehe auch: Edle Wilde.)

S: Doch wo die Schweizer Aufklärung in ihrer Misantropie


Rousseau war entsprechend nicht misanthrop, sondern "soziothrop". (Was man ihm, historisch bedingt, nachsehen mag, weil er in einer ständischen bzw. absolutischen Gesellschaft lebte - aber das ist ein anderes Fass.)


S: die Kraft des Individuums synthetisiert, sehen deutsche - auch und vor allem linksintellektuelle - Analytiker die Erlösung in einer zentralen Autokratie, die den Pöbel zusammenhält. Der «starke Staat» wird als Modell propagiert, wo Sicherheit und Zwang den Einzelnen in seinem Wirken frei werden lässt.


Die Schweizer können heilfroh sein, dass ihre Verfassungsväter die Lehre(n) Rousseaus alles andere als 1:1 umgesetzt haben. Andernfalls wäre die Schweiz wohl eine besondere Art von linker Hölle. Man müsste dort z.B. eine Abstimmungsniederlage ggf. nicht nur akzeptieren, sondern, so Rousseaus Folgerung, einsehen, dass man geirrt habe und sich ein bisschen schämen, weil die volontee generale etwas Anderes besagt.

Auch ist etwa antiautoritäre Erziehung, deren Urvater Rousseau ist, keine gute Idee. (Siehe: "Emile")

Das Problem liegt in der Fortschrittsfeindlichkeit dieser Auffassung. Das Bestehende wird perfektioniert. Doch die Innovationskraft ist schwach. Die (schlussendlich) amerikanische Auffassung widerspricht dem diametral: Das Inidividuum, der rousseausche «Naturmensch» in seinem Bestreben, immer wieder Neues zu schaffen (und auch daran zu scheitern) wird zum Ideal. Der Staat ist bloss nebensächliches Beigemüse, das verhindert, dass sich der Pöbel gegenseitig niederwalzt. Doch nicht die Zugehörigkeit zu einem starken, aber zäh funktionierenden Kollektiv zählt, sondern das «Streben nach Erfüllung (des Einzelnen)». Der europäische, vermeintliche Kampf zwischen Linken und Rechten ist soweit irrelevant (Nationalsozialismus gegen Nationalen Sozialismus (Zone)), sie erinnert in ihrer geheuchelten, systembejahenden Vordergründigkeit an rechtskonservative Katholiken, die sich über Gewaltexzesse von Muslimen ereifern. Insoweit stehen sich Gehlen und z.B. die Baader Meinhoff Truppe näher, als es beiden wohl lieb ist. Die Verkennung der Freiheit ist in diesem «Systemkampf» derselbe. Leider gibt es in Europa (ausser der Schweiz) kaum politische Kräfte, die sich von dieser «Umarmung» befreien konnten.


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Zu Gehlen: Er ging davon aus, dass es einen Menschen in Wildform** nie gegeben hat. Der Naturzustand ist, egal ob paradiesisch (Rousseau) oder echt ätzend (Hobbes) Tinnef. Den Menschen zeichnet aus, dass er, gerade dadurch, weil er ein Mängelwesen ist (weniger Instinktsicherheit, nicht spezialisiert), auf Kultur bzw. Sozialität angewiesen.

Oder genauer auf Institutionen: Das muss nicht der Staat sein; dies kann auch die Familie sein, die Kirche, ein schamanisches Ritual oder der Stamm. Daraus hat Gehlen radikal konservative / reaktionäre Schlüsse gezogen. Wenngleich er keinen Staatsfetisch (im Gegensatz zu Schmitt etwa) hatte oder, obwohl er zeitweise den Nazis anhing, in der Nation oder anders gearteter ethnischer Homogenität keine zwingend heilsbringende Größe erkannte. Religiös war er (anders als Schmitt*) auch nicht. Insofern war er Funktionalist. Hauptsache: Institutionen, egal welche.

Richtig ist, dass Gehlen dem Individuum misstraute, weil er sich auf der Basis seiner Sozialanthropologie kaum ein gutes/richtiges/geordnetes menschliches Leben vorstellen konnte, das nicht tief in Institutionen und/oder die durch dieselben erworbenen Kulturtechniken eingebettet ist. Dies macht ihn zum radikal Konservativen / Reaktionär und Nicht-Liberalen. Gleichwohl galt: Mit der Moderne / mit dem Fortschritt und alle seinen von ihm so empfundenen Schattenseiten muss man auch irgendwie klarkommen ("Zurück in die Zukunft", Stillstand, Nicht-Entwicklung waren für ihn auch Utopien). Daneben attestierte er dem Menschen eine eigentümliche Tendenz zur Entlastung (zumeist durch Technik). Diese Tendenz kann einerseits produktiv sein (schließlich musste man Stühle oder Kühlschränke erstmal bauen), kann aber andererseits auch Faulheit nach sich ziehen. (Einen AfD-Sozialstaat hätte er wohl für suboptimal gehalten.)

Das Ganze erklärt auch, wieso er nie ein zentraler Autor für (deutsche) Nationalisten und/oder Anhänger des in der Tat autoritären Katholiken Carl Schmitt war.

Und es bleibt weiter leicht rätselhaft, wie der Autor Leick darauf kommt, Gehlen gleich mit der AfD zu verschwurbeln. Wahrscheinlich nach dem einfachen Motto: "Gehlen" - "Reaktionär/radikal konservativ" - "Unbehagen am Fortschritt" -> AfD. Genauso gut oder so schlecht könnte man sagen: "Habermas" - "links" - "Unbehagen am Kapitalismus" -> Linkspartei. (Auch wenn sich nur wenige Linksparteiler jemals für Habermas interessiert haben.)

Irgendwo las ich neulich übrigens bei einem durchgeknallten Trumpisten, dass Adorno auch für die mitunter wirklich irre political correctness an manchen amerikanischen Universitäten verantwortlich sein soll.

* Wobei es auch linke und liberale Schmittianer gibt. Aber das ist ein anderes Fass. Allemal war Schmitt das größere und politisch bedeutendere Ex-Nazi-Arschloch als Gehlen.

** Als der Mensch bzw. die Vorfahren desselben noch keine Werkzeuge benutzten, keine Sprache hatten, keine Rituale durchführten und noch nicht so wirklich familiär lebten, waren sie eben noch keine Menschen bzw. noch keine Kulturwesen.


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