Arbeiterklasse / Wählerschichten

NN, Montag, 23. August 2021, 22:29 (vor 978 Tagen) @ Udosefirot

Das, was man früher unter „Arbeiterklasse“ subsummieren konnte, wählt heute AfD…

Glaube ich nicht, vielmehr hat sich wohl die Arbeiterschaft den Nichtwählern ange-
schlossen.

Die Frage ist schwer zu beantworten.

Aus mehreren empirisch wohl soliden Nachwahlbefragungen / Befragungen zu Wählerwanderungen vor einiger Zeit ist bekannt, dass ein sehr hoher Anteil der AfD-Wähler zuvor zu den Nichtwählern gehörte.

Das dürfte inzwischen aber teilweise überholt sein, weil die AfD nun in einigen Bundesländern schon mehrmals mit einem Stimmenanteil von deutlich über 5% angetreten ist.

Dann gab es zwei empirische Studien, die ich nicht näher in Augenschein genommen habe, die auch nach dem sozialen Status AfD-Wählern gefragt haben. Da kann man nach Bildungs/Berufsabschlüssen, Beruf und Einkommen fragen. Ob das aber so geschehen ist, kann ich nicht sagen.

Wenn nämlich nur nach sozioökonomischen Selbsteinschätzungen gefragt wird, antworten sehr viele Befragte (bei allen möglichen empirischen Studien), dass sie zur Mittelklasse gehören. Was in den allermeisten Fällen zwar Sinn macht, aber in Bezug auf die nähere soziale Schichtung wenig aussagekräftig ist. Soziale Schichtung lässt sich am ehesten noch durch eine Kombination aus Schul/Bildungsabschluss und konkretem Job / Einkommen festmachen.*

Die oben erwähnten Studien kamen in Bezug auf die soziale Schichtung der AfD-Wähler zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die eine Studie besagte, dass die AfD-Wähler überproportional häufig zur unteren Mittelschicht gehörten, was bisherige Forschungsergebnisse zu Wählern rechtsradikaler Parteien in Deutschland (und den meisten anderen europäischen Staaten bestätigen würde).** Die andere Studie sprach hier von einem sozialen Durchschnitt, wenn nicht von dem ebenso diffusen wie teils überstrapazierten Begriff "Mitte der Gesellschaft".

Unstrittig und empirisch belastbar ist im gegebenen Zusammenhang nur, dass AfD-Wähler überdurchschnittlich häufig a) männlich und b) eher älter sind (wenn auch der entsprechende Altersschnitt im Osten niedriger liegt als im Westen).

Auch scheint es nach wie vor noch so zu sein, dass höhere Bildungsabschlüsse gegen die Wahl rechtsradikaler Parteien zwar nicht immunisieren, aber das besagte Wahlverhalten unter AkademikerInnen doch vergleichsweise seltener vorkommt (worüber AfD-Mandatsträger / Funktionäre mit Hochschulabschluss nicht hinwegtäuschen sollten).

Sehr interessant war eine weitere, länderübergreifende Studie (finde sie gerade nicht) über rechtsradikales / rechtspopulistisches Wahlverhalten. Sie besagt u.a., dass in Regionen, die relativ viel Bevölkerung verloren haben, dieses Wahlverhalten besonders ausgeprägt ist. Und zwar auch - und das ist der Punkt - unabhängig vom realen sozioökonomischen Status der Region. D.h.: Bevölkerungsverlust geht nicht per se mit steigender / hoher Arbeitslosigkeit / gesunkenen Einkommen einher. Eher damit, dass sich unter den Abgewanderten überproportional viele junge / jüngere Frauen befinden.

Ein passendes Beispiel hierfür ist der Wahlkreis in Thüringen mit dem höchsten Anteil an AfD-Wählern. Dieser Wahlkreis hat in den 20 - 25 Jahren nach der Wende besonders viel an Bevölkerung verloren. Die sozioökonomischen Eckdaten, zumal die Arbeitslosigkeit, lagen allerdings ziemlich genau im Bundesschnitt. Objektiv betrachtet war und ist dieser Wahlkreis alles andere als abgehängt. Auch hier waren mehr Frauen als Männer abgewandert. So kommen in manchen Regionen bzw. Alterskohorten im Osten bis zu 120 Männer auf 100 Frauen.

Von dieser Warte aus gesehen ist rechtsradikales Wahlverhalten weniger ein sozioökonomisches Phänomen, das mit etwaigen, viel zitierten Abstiegsängsten in der unteren Mittelschicht*** einhergeht, sondern mehr ein soziokulturelles Phänomen. Die flexibleren Menschen, darunter mehr Frauen als Männer, sind von zuhause abgehauen und einige der Übriggebliebenen fühlen sich abgehängt, obwohl ökonomische Merkmale / Eckdaten nicht zwingend dafür sprechen.

Zur selben Zeit, als ich den besagten Thüringer Wahlkreise in Augenschein genommen hatte, sah ich zufällig zwei, drei Dokus über West Virginia. Schon allein optisch sah die Thüringer Region gegen West Virginia aus wie geleckt.


* Und hier lauert dann der Widerspruch zwischen Akademikern mit bescheidenem Einkommen und angestellten Handwerkern / Facharbeitern mit bescheidenem Wohlstand.


** Bezieher ganz niedriger Einkommen und/oder Bezieher von Sozialtransfers wählen vergleichsweise selten, und wenn sie doch wählen, wohl auch nicht besonders häufig rechtsradikale Parteien.


*** Der Einwanderer als Konkurrent. Diese Sicht und das entsprechende Wahlverhalten gibt es wohl. Allerdings geht diese Erklärung / dieses Motiv in einigen Regionen mit marginalem Einwanderanteil nicht wirklich auf.


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