Bildungsreform

Pepper, Montag, 06. Oktober 2014, 11:14 (vor 3874 Tagen) @ Oblomov

Im TV sah ich in den Regional-Nachrichten einen Bericht über den Winterschlußverkauf. Der Reporter stand vor einem Warenhaus, die großen Scheiben waren mit Plakaten zugekleistert, auf denen in großen Lettern auf rotem Grund geschrieben stand: "Sell" .
Der Reporter sprach alte und junge Konsumenten an, die mit großen Tüten oder dickem Geldbeutel ( je nach dem, ob sie den Laden erst noch betreten wollten oder herauskamen ) das Kaufhaus stürmten, und er fragte die Kunden: "Was heißt (in der Übersetzung) 'sell' ?"
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, "Ausverkauf", "Rabatte", "Prozente", "halber Preis". Nur wenige nahmen die Frage wörtlich und antworteten: "Weiß ich nicht, so was wie Winterschlußverkauf?".
Alle lagen sie damit richtig. Und es ist im Grunde wurscht, ob da nur ein Ypsilon oder ein "sell" auf dem Plakat steht, wenn man nur die Zeichen zu deuten weiß. ;-)
Viel schlimmer finde ich, dass junge Leute - wir sprachen schon öfter darüber - die Prozentrechnung ( im Gegensatz zu früher ) nicht mehr ohne Taschenrechner/PC beherrschen. Es kann doch nicht sein, dass man Einser-Abiturienten die Aufgabe stellt, vier Prozent von 100,- € zu berechnen und von 5 ex-Schülern genau fünf verschiedene Antworten bekommt. ( Papier und Bleistift konnten benutzt werden.)
Das sind doch (neudeutsch) 'Basics', das MUSS man doch wissen resp. errechnen können. Aber offensichtlich gilt heute immernoch: Non vitae, sed scholae discimus.
Vor rund 10 Jahren gab ich einen Sommer lang einem 14 jährigen Jungen Nachhilfeunterricht im Fach Englisch. Mit Händen und Füßen hatte ich mich gewehrt, weil ich - nach eigener Einschätzung - der Sprache nicht mächtig bin. Die Eltern baten mich inständig, da 'M' beim professionell betreuten und teuren (und 20km entfernt stattfindenden) Schularbeitenzirkel gerade abgemeldet wurde und allein nicht die Hausaufgaben bewältige.

Meine Neunjährige besucht die vierte Klasse und bekommt jetzt endlich Hausaufgaben. Die kann sie niemals allein, immer fragt sie mich. Sie hat einfach keine Lust, nachzudenken oder in der Schule zuzuhören. Wenn ich die Hilfe dann verweigere, weil die Handlungsanweisung klar darüber steht (ich habe ja noch eine große Tochter und weiß, wohin das missverstandene Montessori-Prinzip führt, und zum Teil fragt die Kleine Dinge die ich ein paar Tage zuvor schon erläutert hatte), legt sie die Arbeit beiseite mit den Worten: "Dann sage ich morgen Frau Sch., ich hätte noch eine Frage dazu und konnte das nicht machen." Damit kommt sie durch, das wird nicht als nichtgemachte Hausaufgabe gewertet. Sie kann übrigens auch die Uhr nicht lesen. Gestern fragte sie mich, wie spät es sei. Ich legte ihr schweigend meine übersichtlich bezifferte Armbanduhr vor die Nase (eigentlich hat sie auch eine, ebenso übersichtlich und ohne Firlefanz), während ich kochte. Daraufhin pöbelte sie mich an, ich wisse ja, dass sie die Uhr nicht lesen könne. Ich antwortete nur, dass wir dieses Thema schon öfter gehabt hätten und ich wisse, dass sie bereits im letzten Schuljahr dazu mehrfach Arbeiten bekommen habe. Auch versuchte ich, etwas geschickter, sie bei ihrem intellektuellen Ehrgeiz zu packen. Dann gab ich ihr noch ein paar "Lesehilfen", die sie aber auch nicht annahm. Schließlich stand sie auf und sagte patzig, sie gehe jetzt an ihrem Computer googeln, ob es im Internet ein Uhr-Lern-Programm gebe. Absurd, nicht? (Ja, das Kind hat ein eigenes, neues!, Notebook. Warum? Weil mein alter XP hat, es keine Win7-Treiber dafür gibt und der IE sowie Mozilla nicht mehr laufen. Und weil die Deutschlehrerin empfohlen hat, "Lesepiraten" im Internet zu nutzen. Von Hand schreiben, wenigstens bei Deutsch...? Ach, nicht doch. Meine Tochter googelte dann natürlich doch nicht nach dem Uhr-Programm, denn sie weiß ja, dass in der Taskleiste die Uhrzeit digitalisiert steht.)

Apropos Inklusionsschulen (Zitat Berliner Schule: "Bei uns wird jedes Kind inklusiert"): Das Prinzip ist toll. Aber wenn ich meine Tochter da hin schicken würde, wäre klar, was geschehen würde. Sie bekäme ganz viel Zuwendung und Verständnis dafür, dass sie alles mehrmals erklärt bekommen müsste. Fragen ist geil.
Meine große Tochter, die seit jeher alles verschlang, was gedruckt war, wurde sechs Jahre lang als legasthen gehandelt, bis eine Schulpsychologin nach einem 45minütigen Test mit dem Schwachsinn aufräumte. Ein gutes altes Gymnasium mit Frontalunterricht tat das Übrige. Ein Gymnasium übrigens, das jedes Jahr dramatische Einbrüche der Schülerzahl verzeichnet. Inzwischen kann meine Tochter Orthographie. Es macht ihr sogar Spaß. Und die Casus hat sie mit Latein gelernt ("kannst du mir mal die Frage zu dem Fall aufschreiben?")

"Hilf mir, es selbst zu tun"... verkommt zum: "Ich stell' mich so lang blöd, bis du es für mich machst."

Verzeihung, ich wiederhole mich.

"In the garden" ..... am Gartentisch haben wir fortan jeden zweiten Werktag 'geübt'. Alsbald weigerte ich mich, ihn lediglich bei der Anfertigung der Hausaufgaben zu "beraten" - aus meiner Sicht: für ihn die Schularbeiten anzufertigen, weil dem "lieben" M. jegliche Grundlage fehlte.
Also suchte ich, fand aber nicht mein Schulbuch (für Anfänger) aus den 1950er Jahren. Ersatzweise ließ ich mir von meinem jüngeren Bruder sein "Peter Pim" zuschicken. Die ersten Stunden erbrachten bei meinem Schüler einige Aha-Effekte, während er behauptete, er hätte davon noch nie gehört. Eines Nachmittages legte ich ihm das Buch mit der aufgeschlagenen Seite "Die Uhrzeit" vor und bat ihn die fünf, sechs Aufgaben zu lösen, während ich mal schnell zum Bäcker düste, um Pflaumenkuchen zu besorgen.
Als ich zurück kam, hatte M. (in Verzweifelung) zwar einen Kaffee gekocht, aber keine Aufgabe gelöst. Das Problem: Eine analoge Uhr zeigt unterschiedliche Tageszeiten an, zumeist Viertel- oder halbe Stunden, aber auch 10 Minuten nach 5 etc.
Die englischen Bezeichnung weichen von den deutschen - je nach Region - etwas ab: A half past ten, a quarter to.... usw.
( in Börlinn sagt man ja auch: Dreiviertel fünf; was soviel bedeutet wie: Viertel vor fünf.)
Machen wir es kurz: M. verstand weder das 12er System, noch konnte er ( schon in der Muttersprache ) eine Zeiger-Uhr korrekt ablesen. Immer trug er eine Digitaluhr mit 24 Stunden Anzeige; auch jetzt noch, als es gar nicht mehr modern war. In der Schule waren seine Defizite schlichtweg nicht aufgefallen - wie auch?

Hätte ich es nicht selbst erlebt, ich würde es nicht glauben.
Ich erwarte es auch nicht von Euch. ;-) Ihr würdet auch nicht glauben, wieviele ( zudem lustlose) Stunden es dauerte, bis M. verstand, mit - aus seiner Sicht - antiken Uhren umzugehen.
M. war zu dieser Zeit schon ein begeisterter - und fleißiger - PC-User.
Zum Glück zogen meine Nachbarn im Herbst wieder in die Stadt, so dass ich erlöst war.

Fazit: Man kommt auch durch's Leben, ohne die Schweizer Bahnhofsuhr ablesen zu können. ;-)

Huch, jetzt, nachdem ich oben das mit der Uhr geschrieben habe, las ich Deine Geschichte mit der Uhr. (Manchmal mache ich das so: Da schreibe ich in den Text (um nicht zu vergessen), bevor ich ihn zu Ende gelesen habe. Geht immer schief, aber zumindest glaubst Du mir nun, dass ich Dir Deine Geschichte mit der Uhr glaube. :-D
Im Gymnasium meiner Großen ist das ganz anders. Die dürfen zur Klassenfahrt kein Handy mitnehmen (ich habe halb Berlin nach einer alten Telefonzellenkarte abgesucht, denn vor der Herberge stand eine Zelle, die aber immer belegt war). Die Kinder dürfen auch in der Schule kein Handy benutzen. Alle Eltern begrüßen das (ich auch). Die alte Klassenlehrerin sagte mir, sie wisse überhaupt nicht, wozu die Kinder das bräuchten. Wenn etwas sei, könnten sie ins Sekretariat zu Frau E., die rufe dann die Eltern an. Ich antwortete der Lehrerin, meine Tochter brauche das Handy, um die Uhrzeit abzulesen. Woraufhin Frau B. entgegnete: "Das ist unnötig, in jedem Klassenzimmer hängt eine Uhr." Eine gute alte Analoguhr, versteht sich.


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